Es ist der Heimatbrief Ostern 1995, der mich in große Aufregung versetzt, werden doch Wilhelm und Willi Hocke oder deren Nachkommen aus Böhmisch-Leipa gesucht – das sind ganz eindeutig mein Großvater, mein Vater und ich! Nach einigen Telefonaten erfahre ich, dass beim Roten Kreuz in der Schweiz eine Suchmeldung aus Australien eingegangen sei, was ich mir überhaupt nicht erklären kann. Einige Tage später geschieht dann das Unglaubliche – ich halte einen Brief meines Cousins Ernst Hocke in der Hand, der aus dem Krieg nicht nach Hause gekommen ist, seit Jahrzehnten als vermisst gilt und von dem meine Familie glauben musste, dass er nicht mehr am Leben sei.
Ernst Hocke wird 1921 in Schwora geboren, seine Mutter ist meine Tante Minke, die ältere Schwester meines Vaters. Er wächst im Hause meiner Großeltern und meinem späteren Elternhaus, der Bäckerei Hocke in Schwora, auf und wird als junger Mann zum Militär eingezogen. Bis 1945 ist er wie alle Männer in dieser Zeit im Krieg.
Kurz nach Kriegsende geschieht dann das Unfassbare, wie alle Leipaer müssen auch wir am Bräuhaus gestellt sein und werden unter unwürdiger Behandlung aus der Heimat vertrieben. Am Anfang des Weges sind meine Mutti und ich noch mit unserer Tante Minke und anderen Verwandten beisammen, verlieren uns aber nach kürzester Zeit. Während meine Mutti durch eine glückliche Fügung des Schicksals meinen Vati in einem Soldatentransport am Bahnhof von Oberoderwitz ausfindig macht und er fliehen kann, gibt es von meinem Cousin Ernst keine Nachrichten. Wir finden in der Nähe von Döbeln eine hilfsbereite Familie, die uns eine einfache Unterkunft und meinem Vati später Arbeit gibt. Von unserer Tante Minke hören wir Jahre später, dass sie in Lindau am Bodensee Unterkunft und Arbeit gefunden hat. Von beiden Seiten wird immer wieder der Suchdienst des Roten Kreuzes in Anspruch genommen und alle Schworschen, von denen nach und nach die Aufenthaltsorte bekannt sind, werden gebeten, nach dem Hocke Ernst Ausschau zu halten. Leider bleibt jede Suche ergebnislos. Bis an ihr Lebensende leiden meine Tante Minke und meine Eltern unter der Tatsache, dass sie ihren Sohn bzw. ihren Neffen nicht finden konnten.
Es ist Sommer 1997, als sich unser Flugzeug von Neuseeland kommend dem Flughafen von Cairns in Queensland/Australien nähert und die Aufregung nimmt von Minute zu Minute zu.
Dann steht er vor mir – ein alter Herr, groß, kräftig, auf einen Knotenstock gestützt, umgeben von seinen Töchtern und Enkelkindern – mein Cousin Ernst. Wir fallen uns in die Arme und bringen vor Rührung und Tränen kein Wort heraus.
Was für ein Augenblick!
Fotoapparate klicken, Mikrofone werden uns hingehalten und am nächsten Tag stehen ganzseitige Artikel in den lokalen Zeitungen, die von diesem aufregenden Ereignis berichten.
Ich war bei seinem Einrücken in den Krieg noch ein ganz kleines Mädchen und kenne ihn nur von Fotos, die einen sehr feschen jungen Burschen zeigen und aus den vielen, vielen Erzählungen seiner Mutti und meiner Eltern.
Jetzt erst erfahren wir seine Geschichte. Ernst war zum Kriegsende in Amerikanischer Gefangenschaft,wurde nach Belgien in ein Lager transportiert und musste bis 1949 in einem Kohlebergwerk arbeiten. Erst 1950 wird er nach Deutschland entlassen. Inzwischen weiß er natürlich, dass die Sudetendeutschen aus ihrer Heimat vertrieben wurden, aber wie und wo kann er seine Familie finden?
Er ist allein, völlig mittellos, es ist nicht einfach Wohnung und Arbeit zu finden und die Suche nach seiner Familie bleibt ergebnislos. So ergreift er die Gelegenheit, auf einem Frachtschiff anzuheuern und mit nach Australien zu fahren. Dort werden kräftige junge Männer für Arbeiten im Busch gesucht und er wird sofort genommen. Trotz extremer Wetterbedingungen und unvorstellbarer Hitze im Australischen Busch lebt er sich schnell ein, muss hart arbeiten, verdient aber gutes Geld und fährt einige Jahre später mit einem Küstendampfer nach Norden. Auf einer der Torres Strait Inseln zwischen Australien und Neu Guinea wird er heimisch, arbeitet als Leuchtturmwärter, heiratet eine Insulanerin und verbringt dort glückliche Jahre. Um seinen Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen, übersiedelt die Familie wieder auf das Festland und wird in North Queensland, einem landschaftlich wunderschönen Teil Australiens, direkt am Großen Barriere Riff, sesshaft, wo wir ihn jetzt besuchen.
Inzwischen ist er in Pension, wohnt in einer schönen Wohnung, die in Australien den Pensionisten zu günstigen Konditionen zur Verfügung gestellt wird und verbringt seinen Lebensabend in großer Gelassenheit. Seine Kinder umsorgen ihren Vater mit viel Liebe, obwohl sie nicht in unmittelbarer Nähe wohnen. Da seine Frau schon verstorben ist, können wir sie leider nicht mehr kennen lernen.
Die Töchter sind es auch, die sich immer wieder bemüht haben, in Europa die Familie ihres Vaters ausfindig zu machen und dabei wurden sie auf den Verein „Leipaer Heimat“ aufmerksam. Sie wenden sich an den Internationalen Suchdienst und so schließt sich der Kreis, indem diese Suchanzeige im Heimatbrief Ostern 1995 veröffentlicht wird.
Ich bin glücklich und dankbar, dass mir das Schicksal diese späte Begegnung mit meinem Cousin ermöglicht hat und bin immer noch traurig, dass seine Mutti und meine Eltern diesen Tag nicht mehr erleben konnten.
Ernst Hocke stirbt im Jahre 2002 in Australien, ohne seine Heimat je wieder gesehen zu haben.
Erlebt von Ingeborg Buchner-Hocke, Wien