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Der Zaubervogel

Im nördlichsten Teil des Böhmerlandes ragt die Lausche als Wahrzeichen unserer Heimat in das sächsische Land hinein. Dieser Berg an der Grenze wurde von Ausflüglern viel und gern besucht, zumal er einen herrlichen Ausblick nach beiden Seiten bot.

Ein wunderschönes Stück Land: hohe, dunkle Wälder, schattige Spazierwege, und auf den Höhen manch seltene, liebliche Blume. Der Wanderer, der im weichen Moos von den Mühen des Anstiegs ausruhte, wurde reich belohnt durch den würzigen Duft des Waldes und den Stimmen der Vögel, die sich zu einem vielstimmigen Konzert zusammenfanden. Manchmal freilich vernahm er darunter einen Klang, eine wehe, klagende Vogelstimme, die nicht so recht in den fröhlichern Singsang passen wollte.

Von diesem Vogel erzählt man sich folgende Geschichte:

Auf der Lausche lebte einmal vor vielen vielen Jahren ein Zauberer, der sich da oben einen herrlichen Garten angelegt hatte. Die merkwürdigen Pflanzen und Steine, die der Wanderer noch heute bisweilen dort oben findet, sind davon übrig geblieben. In diesem Garten stand ein Häuschen, in dem der Zauberer seine Mittagsruhe zu halten pflegte.

Einmal geriet ein böhmischer Prinz, der mit seinem Gefolge in dieser Gegend jagte, in den Bereich des Zauberers. Er hatte ein flüchtiges Wild verfolgt und war dabei immer höher bergan geraten. Vom raschen Lauf ermüdet, beschloss er, sich an diesem einladenden Ort ein wenig auszuruhen. Wie er aber so saß und schweigend sein mitgebrachtes Mahl verzehrte, erblickte er plötzlich einen Adler, der hoch oben im Blau des Himmels seine einsamen Kreise zog. Das Jagdfieber packte den Prinzen von neuem, er legte seine Flinte an und traf den königlichen Vogel mitten ins Herz.

Der Zauberer, der gerade inmitten seiner Blumen schlief, erwachte jäh von einem klagenden Geschrei und erblickte zu seinen Füßen das majestätische Tier, das im Sterben lag. Da erzürnte er und schalt: „Wer wagt es, hier meine Mittagsruhe zu stören und meine Gefährten zu ermorden?“

Der Prinz, der es nicht gewohnt war, sich zur Rechenschaft ziehen zu lassen, wurde ebenfalls zornig und rief: „Es ist eine Schande, dass du hier am helllichten Tage liegst und schläfst!“

Da berührte ihn der Zauberer mit einem Stab und sagte: „Meinen Vogel hast du getötet – nun sollst du selbst zeit deines Lebens ein Vogel sein!“

Da schrumpfte die schöne Gestalt des Jünglings zusammen, wurde kleiner und immer kleiner und nahm seltsame Umrisse an. Er bekam einen Rumpf wie ein Falke, einen Schnabel wie ein Geier und die langen staksigen Beine des Storches.

In dieser jämmerlichen Gestalt versteckte er sich im Wald, um nicht in seiner Erniedrigung gesehen zu werden. Er lässt sich nie blicken, aber der ergreifende Ton seiner Vogelstimme, die etwas erschreckend Menschliches an sich hat, rührt den einsamen Wanderer seltsam ans Herz.

 

Quelle: Margarete Kubelka, Die schönsten Sagen aus dem Sudetenland, Aufstieg – Verlag Landshut, 8. Auflage 2003

 

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